Sempervivum

WULFENII ssp. WULFENII

Distribution : Eastern Switzerland, Austria, north-eastern Italy.

 

Leaves glabrous on both surfaces.

 

 

Sempervivum wulfenii PH06
Photo Olivier Legros

The mystery of the yellow houseleek by Mariangela Costanzo

Il giallo del semprevivo giallo  di Mariangela Costanzo


Published in Cactus & Co XV (2), 2011  www.cactus-co.com

Please note : Footnotes 2 and 3 of the English version are confused.


Sempervivum wulfenii  Hoppe ex Mertens & W. D. J. Koch, 1831

von Mariangela Costanzo

Vorwort :

Mariangela Costanzo betreibt seit Jahrzehnten akribische Feldstudien an Semperviven, sofern Sie neben ihrer Tätigkeit als Chefsekretärin der Zeitschrift Cactus & Co. und dem Publizieren von anspruchsvollen Büchern über Crassulaceen noch Zeit dazu findet.

In diesem Artikel lässt sie uns teilhaben an den Tücken der Feldforschung:

Eine historische Standortmeldung, die zur intensiven Erforschung der orobischen Alpen und Studien bis ins Herbar führte - und zu einer zeitgemäßen Dokumentation von S.wulfenii.

Die vielen Höhenmeter, die hierzu zurückgelegt wurden, können nur erahnt werden und sind Ausdruck von Mariangelas lebenslanger Passion.

Klaus Schropp

Der Protagonist dieser Geschichte ist S. wulfenii, ein elegantes Sempervivum mit gelben Blüten. Es wurde 1778 von Baron Franz Xaver von Wulfen (1), einem Jesuiten, in den österreichischen Bergen gefunden. Es wächst nur langsam, ausschliesslich auf siliziumhaltigen Böden in Höhen von 1500 – 2800 m. Die Blätter sind blaugrün, an der Basis violett-rötlich, glatt aber mit bewimperten Rändern. Es wird als selten beschreiben, in Wirklichkeit gibt es Orte, an denen es sehr zahlreich vorkommt, und andere, wo es nur spärlich wächst. Sein Verbreitungsgebiet umfasst die Steiermark, Kärnten, das Tirol, Carnia, Alto Adige, Trentino, den südöstlichen Teil des Engadins und die Lombardei. Wie weit westlich das Verbreitungsgebiet reicht, ist immer noch unbekannt. In der „Flora d’Italia“ nennt Pignatti Valsesia als Grenze, obwohl es keinen Beweis gibt, dass es im Piemont vorkommt. Abgesehen von ein paar alten und höchst zweifelhaften Herbarbelegen, die eher S. grandiflorum, auch einer gelbblühenden Art, oder einer Hybride von S. grandiflorum gleichen, gibt es keinen einzigen gesicherten Fund im Piemont.

Die Schweiz hat seit langem eine sehr genaue botanische Karte. Gemäss dieser Karte ist das westlichste Vorkommen in der Schweiz der Piz Duan im Bergell, nördlich des Val Masino. Meine eigenen Recherchen auf der italienischen Seite des Splügen, sowohl im Val di Lei als auch im Valle di San Giacomo (also zwischen Bergell und Misox) scheinen diese Grenze auch für Italien zu bestätigen. Wenn man jedoch die Adda überquert, also von den Rhätischen zu den Bergamasker Alpen wechselt, scheint sich die Grenze etwas weiter nach Westen zu verschieben.

Sempervivum wulfenii ex Riegersburg

Giuseppe Comolli, der Autor der „Flora comense“, versichert, Sempervivum wulfenii in der Nähe von Sueglio, oberhalb von Dervio, „in trockenen Wiesen“ gefunden zu haben. Sueglio ist ein kleines Dorf im Val Varrone im Südwesten des Bergells, in der Provinz Lecco, östlich des Comer Sees auf 775 m ü.M. gelegen. Diese Höhenangabe scheint auf den ersten Blick eher auf eine falsche Identifizierung hinzudeuten, denn die Art wächst normalerweise nicht in so tiefen Lagen. Möglicherweise ist dieses Vorkommen in der Nähe des Comer Sees aber doch nicht ganz unwahrscheinlich, denn an der östlichen Grenze des Verbreitungsgebiets, in der Steiermark, wächst sie an 3 verschiedenen Stellen auch auf ganz ungewöhnlichen Höhen : Auf dem Basaltkegel, auf dem die Riegersburg steht (450 – 550 m), in den Spalten der Geierwand in der Herberstein-Klamm (650 m) und an Steilwänden entlang der Strasse nach Scheiben (950 m). Und etwa 80 km Luftlinie von Riegersburg entfernt, in Slovenien, wächst auf zwei niedrigen, zusammenhängenden Hügeln (Donacka gora und Resenik) auf 500 – 800 m Höhe S. wulfenii ssp. juvanii, eine Form mit  drüsig behaarten Blättern. Man nimmt an, dass sie während der Vereisungen des Quartärs von Norden und von höheren Lagen hierher gelangt und dann hier geblieben sei.

 Die Population in Sueglio allerdings kann nicht so alt sein, denn während des Quartärs sah das Gebiet von Lecco so aus wie die Antarktis heute – eine riesige Eisfläche. Wulfen’s Hauswurz hätte also zu jener Zeit nur auf den höchsten Gipfeln existieren können, dh jenen, die über die mächtige Eiszunge hinausragten, die sich durch das Veltlin hinunter zog. Sie könnte sich dann in jüngerer Zeit auf niedrigeren Höhen angesiedelt haben, z.B. in der als Kleine Eiszeit bezeichneten Periode von 1550 – 1850, während der die Gletscher in Gegenden zurückkehrten, die in der Römerzeit und im Mittelalter als Weiden genutzt worden waren.

Sempervivum wulfenii ssp. juvanii in Kultur

Andererseits fällt es schwer zu glauben, dass Comolli sich geirrt habe und mit ihm auch Giuseppe Medici, der in seinem „Saggio della Storia Naturale del Monte Legnone e del Piano di Colico“ ebenfalls vom Vorkommen der Spezies in dieser Region berichtet (2) (leider ohne genaue Ortsangabe). Im 20. Jahrhundert jedoch scheint niemand mehr S. wulfenii hier gefunden zu haben, was an sich zwar nicht viel heissen will. Die Bergflora hier ist zwar von zahlreichen Botanikern studiert worden, aber dass sie umfassend erforscht sei, kann man nicht sagen. Das Gebiet ist so weitläufig, dass es immer noch Täler und Berge gibt, die nur oberflächlich untersucht sind. Dazu kommt, dass Botaniker sich lieber so attraktiven Pflanzenfamilien wie beispielsweise den Orchidaceae widmen, was zur Folge hat, dass viele andere, unter ihnen mit Sicherheit auch die Crassulaceae, stark vernachlässigt werden. Das lässt sich auch an der Tatsache ablesen, dass immer wieder neue Arten entdeckt und beschrieben werden; so sind u.a. im Jahr 2005 zwei neue Alchemilla (Rosaceae) - Spezies von zwei ganz verschiedenen gut bekannten und stark frequentierten Gegenden in den Bergamasker Alpen beschrieben worden, nämlich dem Gebiet um die Gemelli-Seen und vom Passo della  Crocetta (Monte Alben).

Selbstverständlich habe ich Sueglio und seine unmittelbare Umgebung gründlich abgesucht. Eine Bestätigung für Comolli’s Erwähnung zu finden, wäre auch hilfreich zur Klärung der Frage, ob die Präsenz von drüsigen Haaren auf der Blattoberfläche – charakteristisch für die ssp. juvanii, aber auch bei einigen Klonen von der Riegersburg und von Herberstein (3) zu finden – das Resultat der Anpassung an die Umwelt oder ein vererbtes Charakteristikum sei.

Sempervivum tectorum auf dem Monte Legnone

Die Gegend um Sueglio hat sich seit dem 19. Jahrhundert stark verändert. Es gibt nicht mehr viele „trockene Wiesen“. Auf der linken Seite der Strasse nach Dervio, auf ca. 400 m Höhe, findet man Sedum album, S. dasyphyllum, S. sexangulare, Petrosedum montanum, Hylotelephium maximum und Sempervivum tectorum, etwas höher, oberhalb des Laghetto di Artesso, nahe bei der Bellano-Hütte, wieder S. tectorum, dann nichts mehr bis zum Gipfel des Legnoncino (1714 m), hier dann wieder die Dachhauswurz. Entlang des Weges von der Roccoli Lorla-Hütte zum Gipfel des Legnone (2609 m) wächst nur noch S. tectorum, keine Spur von S. wulfenii, wenigstens bis auf 1900 m – ich habe zweimal versucht, den Gipfel zu erreichen, beide Male hat mich das schlechte Wetter daran gehindert, weiter hinauf zu steigen.

Nur ein bisschen weiter östlich, etwa 15 km Luftlinie, ist S. wulfenii auf beiden Seiten der Bergamasker Alpen, sowohl auf der Veltliner Seite als auch gegen Bergamo, noch reichlich vorhanden – zu reichlich jedenfalls, als dass man glauben könnte, es sei auf diese Plätze beschränkt. Normalerweise nimmt die Dichte einer Population ja ab, je mehr man sich der Grenze ihres Verbreitungsgebiets nähert, aber niemals verschwindet eine Art einfach ganz plötzlich, es sei denn, natürliche Hindernisse verunmöglichen ein weiteres Vordringen. Es gibt aber zwischen dem westlichsten bekannten Vorkommen, dem Passo San Marco, und dem letzten Gipfel der Bergamasker Alpen, dem Monte Legnone, nichts Derartiges, was die Präsenz von S. wulfenii verhindern würde.

Genau hier habe ich also meine Suche fortgesetzt, zuerst in der unmittelbaren Umgebung von San Marco (Avaro, Piazotti), dann etwas weiter westlich (Pizzo di Tre Signori, Varrone und Trona). Hier scheinen Sempervivum höchst selten zu sein. Ich habe nur sehr wenige Exemplare gesehen, es waren entweder S. tectorum oder S. montanum, kein einziges S. wulfenii. Eigentlich hätte ich es wissen können, Comolli hat ja geschrieben : „Die Art, die ich einst in den trockenen Wiesen bei Sueglio, oberhalb von Dervio, gesehen habe, habe ich in den Bergen dieser Region nie mehr gesehen.“

Sempervivum tectorum - Albino

Möglicherweise hat sich der Botaniker von Como aber doch getäuscht. Denn es ist in der Tat höchst unwahrscheinlich, dass Wulfen’s Hauswurz nur an jener ihr im übrigen so wenig entsprechenden Stelle vorgekommen sein soll und nicht auch auf den umliegenden Bergen, wo sie ja viel bessere Wachstumsbedingungen vorgefunden hätte. Comolli hat sicherlich gelbe Blüten gesehen, das steht ausser Zweifel, aber um welches Gelb es sich gehandelt hat, das wissen wir nicht. Wenn es ein blasses Gelb gewesen ist, könnte es sich um einen S. tectorum–Albino gehandelt haben, die beiden Arten sind sich ähnlich. Das würde erklären, warum die Pflanze nur in Sueglio gesichtet worden ist und nur während einer kurzen Zeit. Der Albinismus ist selten bei den Sempervivum; da die Anomalie vererbt wird, kann sich eine solche Pflanze nur durch die Kreuzung mit einer anderen mit demselben Gen-Defekt fortpflanzen.

Nachdem nun wohl einigermassen feststeht, dass S. wulfenii in der Gegend um Sueglio nicht vorkommt (ganz sicher wird man das nie wissen), bleibt noch abzuklären, ob es nicht vielleicht doch noch andere Vorkommen in diesem letzten Abschnitt der Bergamasker Alpen gibt. Der Zucco del Corvo (1980 m) könnte hier in Frage kommen. Obwohl ich auf dem Weg, der auf seiner Südseite Richtung Tre Signori führt, nichts gesehen habe, bin ich überzeugt, dass die Lösung für das Gelb hier auf diesem grasbewachsenen „Panettone“ zwischen dem Valsassina und dem Val Brembana zu finden ist. Der Hinweis kommt von einer glaubwürdigen Quelle, dem FAB, er muss unbedingt ernst genommen werden.

 

(1)  Von Wulfen war ein berühmter Botaniker, ein Pionier der Erforschung der österreichischen Alpen. Er verfasste so bedeutende Werke wie „Plantae rariorum Carinthiacae“ und die „Flora Norica Phanerogama“, beide posthum erschienen. Wir verdanken diesem vielseitigen Gottesmann die Entdeckung vieler alpiner Pflanzen, unter ihnen die ebenso faszinierende wie mysteriöse Wulfenia carinthiaca, die nur ein einem begrenzten Gebiet rund um den Passo di Pramollo, in den Karnischen Alpen, vorkommt, sowie das Mineral Wulfenit.

(2)  In beiden Publikationen trägt die Art den Namen, den ihr von Wulfen bei ihrer Entdeckung gegeben hatte : Sempervivum globiferum.

(3)  Die behaarten Blätter sind ein Charakteristikum von S. wulfenii ssp. juvanii. Vor der Entdeckung der Populationen in der Steiermark hat man angenommen, dass sie nur bei der Subspezies vorkommen.

(4)  F.A.B. – Gruppo Flora Alpina Bergamasca. Die Vereinigung führt seit Jahren eine flächendeckende Erforschung der Flora durch, mit dem Ziel, einen phytogeographischen Atlas zu erstellen.

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